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[Rezension] Ein denkendes Herz
Ein denkendes Herz
Autorin: Susanna Tamaro
Verlag: Piper
ISBN-10: 3492057616
Erscheinungsdatum: 01.08.2017
Seiten: 192
Inhalt:
Die 60 jährige italienische Schriftstellerin Susanna Tamaro, bekannt durch ihren Welterfolg “Geh wohin dein Herz dich trägt” schreibt ihre Autobiographie.
Sie hatte es nicht leicht als Kind. Sie konnte sich nicht mit ihrer Weiblichkeit identifizieren und hasste alles,
was damit zu tun hatte.
Sie stellte schon als Kindergartenkind vielschichtige Fragen und wurde weder von den Eltern noch von den Lehrern verstanden, wenn gar wahrgenommen.
Sie schaffte es nicht, sich in die Gemeinschaft der Kinder einzufügen.
Das, was für andere Kinder ein Vergnügen war, war für sie eine Qual.
“Dieses Mädchen wird Ihnen ernste Probleme bereiten”, sagte die Kindergärtnerin am Ende des Jahres zu meiner Mutter, “ich möchte nicht ausschließen, dass sie in einer Irrenanstalt landet.”
Sie schildert vordergründig Erlebnisse aus ihrem Leben, doch hauptsächlich sind es die komplexen Fragen, die das Buch begleiten und im Verlauf der Erzählungen immer tiefgründiger werden.
Meine Meinung:
Die Sprache ist glasklar, mit einer bestechenden Prägnanz.
Das lässt mein Leserherz höher schlagen.
Dennoch fiel es mir schwer, die Geschichte zu lesen, weil sie doch ganz schön deprimierend ist. Gerade weil ihre Sprache so präzise ist, liegt das Schwere, was Tamaro erlebt hat, deutlich spürbar vor einem.
Ich vermute, dass sie hochbegabt ist und hochsensibel, aber sie verwehrt sich irgendwelcher Dankschubladen.
Einmal musste sie sich an Karneval als Rotkäppchen verkleiden.
“Ich erinnere mich an ein schreckliches Jahr, als mir das Rotkäppchenkostüm zufiel. Der Weg, den ich zu Fuß zurücklegen musste, um zum Ort der Feierlichkeiten zu gelangen, ist mir als der längste meines Lebens in Erinnerung. Ich hielt den Weidenkorb mit dem Essen für die Großmutter in der Hand, auf dem Kopf trug ich eine lächerliche Haube, ein kariertes Tuch als Mäntelchen um die Schultern, so schlich ich an den Häuserwänden entlang.
Wie kann Rotkäppchen Spaß haben, wenn es weiß, dass es wenig später vom Wolf gefressen wird?”
Ich denke, ich kann sagen, dass nicht viele Kinder sich solche Gedanken machen.
Im hinteren Teil des Buches geht es auch um Glaube, Religion und Gott.
Hier möchte ich eine Warnung an sehr gläubige Menschen aussprechen. Ich könnte mir vorstellen, dass manches, was sie schreibt, verletzend ist. Das ein oder andere Mal musste selbst ich ein wenig zusammen zucken.
Manchmal verstehe ich sie einfach nicht.
“Was ich mir damals, vor mittlerweile fünfzig Jahren, ausmalte, ist fast alltägliche Praxis geworden.
Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, greift ein Vater zum Messer und setzt dem Leben seiner Kinder in wenigen Augenblicke eine Ende.”
Keine Frage, das jeder Mord am Kind und jede Misshandlung und Missbrauch das, wie Tamaro schreibt, das “verabscheuungswürdigste aller Verbrechen” ist.
Aber das der Mord eines Kindes “alltägliche Praxis” ist, möchte ich doch bestreiten.
Ebenso wie wenn man unsere heutige Wirklichkeit betrachtet, “erscheint 1984 von Orwell wie ein harmloser Text für Klosterschülerinnen”.
Alles in allem ein sprachlich wundervolles Buch, inhaltlich nicht immer einfach anzunehmen. Auf jeden Fall bekommt man einen tiefen Eindruck in Tamaros Erleben, in ihre Gedanken und Gefühle.
4,5 ♥
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So unrecht hat Frau Tamaro mit den Kindsmorden leider gar nicht, liebe Lilly. In einem Artikel von 2014 habe ich diese Zahlen gefunden: "Wenngleich die Zahl der getöteten Kinder von Jahr zu Jahr schwankt, gibt es doch seit zehn Jahren einen insgesamt rückläufigen Trend. Gleichwohl zeichneten diese Zahlen "ein trauriges Bild", sagt Ziercke. Durchschnittlich kämen jede Woche drei Kinder durch Mord, Totschlag, fahrlässige Tötung oder Körperverletzung mit Todesfolge ums Leben." – Quelle: https://www.t-online.de/leben/familie/id_69781366/kindesmisshandlung-pro-woche-sterben-drei-kinder-durch-gewalt.html
Danke für den Tipp. Das Buch werde ich mir auf jeden Fall zulegen.
Liebe Grüße, Anne
Liebe Anne,
das hat mich jetzt doch ganz schön erschreckt. Das hätte ich nicht gedacht. Eine Weile waren ja ständig Kindesmorde in der Zeitung, aber nicht mal da hätte ich gedacht, dass es *so* oft ist. Aber ich finde, man hört schon lange nichts mehr in den Medien über Kindesmorde, oder?
Ja, ich kann mir gut vorstellen, dass das Buch was für Dich ist.
Vielleicht wäre es mir mit dem Buch auch nochmal anders gegangen, wenn es mir zur Zeit selber nicht so schlecht gehen würde. Daher wollte ich es auch nicht so negativ bewerten. Die Sprache ist auf jeden Fall toll. Hast Du schon andere Bücher von ihr gelesen?
Geh wohin Dein Herz Dich trägt hat es mir damals sehr angetan. Vor einer Weile habe ich Luicito gehört, das war ganz wunderbar. Könnte Dir auch gefallen.
Herzlich
Lilly
"Geh wohin Dein Herz Dich trägt" – war das nicht die Geschichte zwischen der Enkelin und der Großmutter? Dann habe ich das gelesen. Das fand ich damals sehr gut.
Anne, ja genau!
Liebe Lilly,
danke, dass du mich auf dieses Buch aufmerksam gemacht hast! "Geh wohin dein Herz dich trägt" ist eines meiner Lieblingsbücher. Ich war 19, als ich es damals gelesen habe und es traf mich mitten ins Herz. Ich habe es seitdem schon zigmal verschenkt und es hat einen Ehrenplatz in meinem Bücherregal. Ihre Biografie will ich unbedingt lesen!
GlG vom monerl
PS.: Ich stimme Anne zu, leider sind Kindsmorde häufiger als man denkt und es sich vorstellen möchte. Auch ist unsere Welt sehr viel rauer geworden, sagt mir mein Gefühl und das, was ich so in der Welt sehe und von ihr lese. Wir sind mit "Fake News" usw. schon über die Idee von Orwels "1984". Damals war es eine Idee, eine Angst, heute schon teilweise (traurige) Wirklichkeit…
Liebe monerl,
witzig, in dem Altern ungefähr habe ich es auch gelesen! Es gab damals so Literatur-TShirts und da habe ich mir von meiner Oma eines schenken lassen, wo "Geh wohin dein Herz dich trägt" drauf steht. ♥
Ich muss sagen, ich habe mich bisher noch nicht getraut, es erneut zu lesen. Ich hatte zu meiner Oma eine sehr intensive Beziehung. Meine Oma ist schon lange tot und ich vermisse sie sehr. Daher habe ich Angst, was das Buch heute in mir auslöst.
Aber ich habe es erst letztens meiner Freundin geschenkt, die eigentlich keine Diogenes-Bücher lesen mag, weil sie die Cover so furchtbar findet. Mal sehen… Ein Versuch war es wert.
Ok, das schockt mich, aber da habe ich das wohl falsch eingeschätzt. *seuftz* Manchmal frage ich mich, wie man diese ganzen grausamen Realitäten aushalten soll.
Liebe Grüße
Lilly